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ÜBER DAS RECHERCHIEREN

WIE GENAU SOLL MAN ES MIT DEM RECHERCHIEREN NEHMEN?

Beispiel: Warum fliegt Paul nach Bari und nicht nach dem näher gelegenen Brindisi?

    

Was für eine Frage! Wen soll das interessieren?

Stimmt! Ausserdem bin ich der Autor, bin ich es, der die 'dichterische Freiheit' geniesst, und ich kann meinen Helden hinfliegen lassen, wo immer ich will. Und - Hand aufs Herz - wer aus der Leserschaft diesseits der Alpen wüsste auf Anhieb, dass Brindisi viel näher bei Lecce liegt als Bari? So what?

Von Bari nach Lecce ...

Angenommen, Sie lesen in einem amerikanischen Spionagethriller, der in der Schweiz handelt, folgende Passage:

... Nachdem Clark McMuffy* in seinem Hotel am Zürichersee erfahren hatte, dass der militante Flügel der oppositionellen Alpen-Partei plant, in Bern das Gebäude des Schweizerischen Verfassungsgerichts in die Luft zu sprengen, begab er sich unverzüglich zum Züricher Flughafen, nahm dort den nächsten Flug nach Bern und konnte so noch rechtzeitig den Schweizer Ministerpräsidenten vor der drohenden Gefahr warnen ...

* Das ist der amerikanische Meisterspion.

Sie würden wohl das Buch zuklappen und bereuen, 25 CHF dafür investiert zu haben. Wenn die Geschichte wenigstens spannend erzählt wäre, könnte man sich mit dem vermutlich schwachsinnigen Plot vielleicht noch abfinden. Aber dass es ein Schweizerisches Verfassungsgericht geben soll (gemeint ist wohl das Schweizerische Bundesgericht) und sich dieses in Bern befinden soll (es ist in Lausanne), und dass der Spion den Ministerpräsidenten warnt (dieses Amt gibt es in der Schweiz nicht) und zu diesem Zweck ein Flugzeug besteigt (es gibt keine Linienflüge zwischen Zürich und Bern, sondern man nimmt den Zug und ist in 57 Minuten in Bern, und dort sogleich viel näher beim - äh - Ministerpräsidenten) - kann man vielleicht einem überseeischen Leser zur Not noch zumuten, aber niemandem in unseren Breitengraden ...

So verhält es sich auch in Bezug auf unsere Geschichte. Jeder, der von Zürich nach Lecce reisen will, fliegt nach Brindisi und nicht nach Bari. Und in Brindisi besteigt er anschliessend den Flughafenbus und keineswegs den Zug und kommt 40 Minuten später ohne Zwischenhalt in Lecce an, sogar nur ein paar Schritte von jenem Hotel entfernt, das ich als Vorlage für mein Kongresshotel genutzt habe. Warum nur lasse ich Paul angesichts dieser erdrückenden Gegenargumente dennoch nach Bari fliegen?

Antwort

Ich brauche Zeit, um meinen Protagonisten einzuführen!

Die Leserschaft will wissen, mit wem sie es zu tun hat, und zwar bald. Wer ist dieser Paul? Er hat Ticks. Aber vor allem hat er ein Problem mit Frauen. Das haben viele Männer - aber bei ihm ist es eine bestimmte Kategorie von Frauen, die ihm grosses Unbehagen bereitet. Um dies zu verdeutlichen, arrangiere ich eine Begegnung mit einer dieser 'Problemfrauen', mit einer 'Roten'.

Dies gibt mir zugleich Gelegenheit, seine Schwester einzuführen, Susanne, indem er einen inneren Dialog mit ihr hält. Darin erläutert sie ihm, wie er diese Frau ansprechen soll, nämlich unter Nutzung einer Toilette. Damit die Sache logisch gut aufgeht, muss diese Frau eine Station nach ihm erst einsteigen und wiederum eine Station vor ihm aussteigen. So etwas geht mit einem Flughafenbus nicht, also brauche ich einen Zug.

Beispiel: Die Tücken des Fahrplans

     

Die Ferrovie del Sud Est (FSE) spielen im Roman eine wichtige Rolle. In ihren Zügen erlebt Paul Hochs und Tiefs.

Bahnhof Lecce mit Zug der FSE

Mein erster Plot wollte, dass Paul am letzten Tag seines Aufenthalts im Salent, an einem Sonntag, aus dem tiefen Süden der Halbinsel nach Lecce zurückfährt, dort den Flughafenbus nach Brindisi besteigt und anschließend in die Schweiz zurückfliegt. Eine Schlüsselszene hätte im Flughafenbus stattfinden sollen. Alles wäre thematisch gut aufgegangen. Wäre da nicht ein Problem aufgetaucht, an das man hierzulande nicht denken würde.

Die FSE fährt an Sonn- und Feiertagen nicht! Ich habe es nach etwa einem halben Jahr Arbeit am Roman festgestellt, als ich mich noch einmal vergewissern wollte, dass für Paul alles auch wirklich in einem Tag zu schaffen ist.

Was nun? Wer von den potenziellen Lesern kennt hierzulande den Fahrplan der FSE? Wie groß wäre die Wahrscheinlichkeit, dass ein (deutschsprechender) Einheimischer es merken würde, und wenn ja, dass eine solche Unstimmigkeit für sie so wichtig wäre, dass sie frustriert das Buch zur Seite legen würden? Das wäre wohl kaum zu erwarten. Aber ich habe feststellen müssen, dass ich es gleichwohl nicht tolerieren kann. Und so habe ich den Plot – mit vielen Folgewirkungen – so umgeschrieben, dass die entscheidende Rückfahrt an einem Samstag stattfindet. Eine gewisse Zwanghaftigkeit, unter der ich meinem Protagonisten leiden lasse, sucht auch mich immer mal wieder heim …

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